Presse


ausführlichere Texte:
4 Suiten zu Viktor (Patrick Müller, Text zu CD)
Gegen die Systeme ankomponieren (Thomas Meyer, Tages-Anzeiger)
Streif(f)lichter (Rico Gubler, Positionen Nr. 44)
"...weisses Blatt Papier..." (Patrick Müller, Interview)
das erlösende Moment am Doppelstrich (Dissonanzen Nr. 78)

Booklet CD

4 Suiten für Viktor
von Patrick Müller

Wer ist Viktor?

Gesehen hat ihn noch niemand, Viktor. Doch begegnen kann man ihm bisweilen: in einigen von Rico Gublers Blättern zu Viktor sowie, vielleicht, in seiner Musik. Viktor, aus Blut und Fleisch, doch erfahrbar nur in imaginärem Raum, hat dadurch alle Male einer fiktiven Figur, eine Existenz zwischen Buchdeckeln oder den Bytes und Bits eines digitalen Datenträgers. So greift Viktor auf die Realität, auf die Wirklichkeit zu, ohne selbst real zu sein. Der Komponist, Interpret und Improvisator Gubler gibt sich dadurch als lesender Komponist zu erkennen, oder genauer: als komponierender Leser. Sprache, Literatur, das künstlerische Wort galt und gilt seinem Denken und
seinen Werken als zentraler Inhalt, seine Musik ist Tonsprache im eigentlichen Sinn des Wortes, ohne allerdings auf Wörter zurückgreifen zu müssen.«Gedämpft schreiend »ist ein Satz aus der vierten Suite für Viktor bezeichnenderweise überschrieben,«zurückhaltend besingend »zwei weitere Sätze
aus der dritten Suite. Gublers Beschäftigung mit Poesie und Prosa, mit Werken von Friedrich Hölderlin, Thomas Bernhard oder Robert Walser, die einige seiner älteren Stücke verraten, hat mit Vertonung im herkömmlichen Sinne allerdings wenig zu tun. Viel eher sucht Gubler nach jenen Stellen, wo die Form oder der Gestus der Sprache oder des Sprechens sich mit Musik berührt: der formale Gedanke einer unmöglichen Rückkehr im Klavierquartett «Weh mir, wo nehm‘ ich, wenn es Winter ist, die Blumen …»(Hölderlin),die klangliche und strukturelle Analyse sprachlicher Artikulationsvorgänge
im Sologeigenstück «Streif(f)lichter einer Morgenstunde »(Walser).Viktor ist Platzhalter jener Leerstelle, wo der Durchblick auf eine andere Wirklichkeit möglich wird.


Woher kommt Viktor?

Wie alle fiktiven Figuren will auch Viktor eine Realität sichtbar machen, ohne sich den Widerwärtigkeiten des Realen ausliefern zu müssen. In den Skizzen und Blättern zu Viktor, die Gubler seiner jüngst erschienenen Solo-CD (en avant records)beigegeben hat, lassen sich die Konturen der Figur etwas genauer dingfest machen: Um Viktor herum ist die starre Linearität des zeitlichen Flusses immer wieder aufgesprengt, ist
die räumliche Einheit des Vorwärts und Rückwärts verneint, wird der Entfremdung des Innen vom Aussen widersprochen: eher als in Perspektive gesetzt zu sein, steht Viktor ein für die unverrechenbare Einmaligkeit des Augenblicks. Es ist vielleicht nicht ganz falsch, für Viktor die Patenschaft des Kulturphilosophen Jean Gebser (1905 ?1973)zu behaupten, den Gubler in einem seiner Texte einmal kurz erwähnt. Die Figur Viktors würde demnach für den Übergang zweier Bewusstseinsformen stehen, die Gebser als «mental » und «integral »beschrieb. Erstere Form, die den denkerischen Hauptstrom
der Moderne kennzeichnet, ist geprägt durch die Trennung, die Entfremdung eines (betrachtenden)Subjekts vom (betrachteten) Objekt, das denkerische Pendant ist die perspektivisch gerichtete dialektische Methode, die ein Gegensatzpaar im Dreischritt zur Synthese zu führen versucht.«Rationalismus, Finalismus, Utilitarismus, Materialismus: kurzum die rationalen Komponenten der perspektivischen Welt »zeichnen, so Gebser, diese Weltsicht aus. Das «integrale » Bewusstsein,, das es nach Gebser zu erreichen gilt, strebt hingegen eine neue Ganzwerdung an, ohne in archaische oder mythische Urgründe zurückfallen zu müssen: es abstrahiert nicht, sondern versucht das Konkrete zu einem neuen Ganzen zu integrieren. Wichtiger als die Produkte dialektischer Synthesevorgänge sind hier die Prozesse der Integration selbst, zeitliche und räumliche Entfremdungen sollen aufgehoben sein. Zentral werden dabei die Zwischenbereiche.- In gewissem Sinne erscheint Viktor, der Anteil an diesen Entwicklungen nimmt, als Figur eines (post)modernen Bildungsromanes. Er repräsentiert damit die Signatur einer Generation, die die perspektivisch gerichteten politischen und musikalischen Utopien ?
Sozialismus etwa oder Serialismus ? in erster Linie aus den Geschichtsbüchern kennt. Eine Generation auch, die nach Reibungsflächen sucht, doch ständig nur auf Watte stösst.


Was tut Viktor?

Was aber hat dies alles mit Musik, mit den «Suiten für Viktor »zu tun? Nun, für Gubler heisst Komponieren nicht so sehr das Lösen selbstgestellter Probleme, nicht die rational, logisch folgerichtige Konstruktion musikalischer Entwicklungen. Wenn sich beispielsweise im Anfangsstück der ersten Suite die geheimnisvoll granulierte Melodie plötzlich zu einem pulsierenden Klangfeld verwandelt, so interessiert nicht so sehr die Möglichkeit, den Verwandlungsprozess im Hörvorgang stringent nachvollziehen zu können. Von Interesse ist vielmehr das Dazwischen, dasjenige also, was «in den Zwischenräumen »,so der Titel des dritten Stückes aus der dritten Suite, sich ereignet. Gerne vergleicht Gubler dieses Dazwischen mit einer Blackbox:«Vergleichbar einem Chemiker, der gezwungen ist, Theorien aufzustellen, was genau sich wohl in dieser Blackbox abspielen könnte, versuche ich mir ein musikalisches Szenario vorzustellen, in dem sich Texturen verändern, und lasse durch diese Blackboxsituation viel Raum
für Fantasie und Intuition.»Als Hörer fühlt man sich bei solchen Strukturen urplötzlich in einen gänzlich anderen Zustand geworfen, es ergibt sich die Notwendigkeit, sich völlig neu orientieren zu müssen, selbsttätig einen Integrationsprozess zu vollziehen, auf die Suche zu gehen nach dem Dazwischen. Oft haben diese überraschenden, weil objektiv kaum nachvollziehbaren Verwandlungen mit veränderten energetischen Zuständen zu tun. Und so überrascht es vielleicht nicht, dass Gubler in den Suiten oft zu pulsierenden Texturen greift:«ungefähr ein Tanz »,«inwendig pulsiert »,«Impulse, eine Auswahl», «…und ein Walzer ». Indem diese Texturen angesteuert oder verlassen werden, können jeweils überraschende, neue Räume entstehen, Wahrnehmung wird als energetische erlebt ? Gubler schöpft hier aus seinen Erfahrungen als improvisierender Musiker. Doch wo Zeit und Raum aufgesprengt ist, findet dieses Dazwischen nicht nur in horizontaler Dimension statt. Ein anschauliches Beispiel ist das «Quintett I [incontro ]» aus der ersten Suite: Darin begegnen sich zwei scheinbar unabhängige Zeit- und Klang-
strukturen, dargeboten einerseits von Violine, Violoncello und Baritonsaxophon, andererseits von Bassklarinette und Klavier. Auch hier interessiert die gegenseitige Beeinflussung der beiden Klanglandschaften und was zwischen ihnen im Hörvorgang entsteht. Die Suche nach Zwischenbereichen, nach dem kleinsten Übergang, lässt sich gar bis in die feinsten Verästelungen der musikalischen Strukturen verfolgen. Wenn die Violine einmal tremolierend und crescendierend von einem einzelnen Ton zu einem mit instabilem Einschwingvorgang versehenen Doppelgriff übergeht, dabei den Bogen
von der Bogenspitze weg, zum Ponticello hin zu bewegen hat und ihn zusätzlich auch noch drehen muss, bis das Bogenholz spielt, so handelt es sich nicht um eine komplexistische Überforderung des Interpreten, vielmehr soll das wenige Sekunden dauernde Ereignis mit seinen stetigen Übergängen den Reichtum von ?eigentlich nicht komponierbaren, nur disponierbaren ? Zwischenbereichen hörbar machen. Auch noch Tonhöhen sind meist instabil, noch bevor sie sich verfestigen, werden sie zum Glissandieren gebracht. Dem Interpretierenden wird dadurch Individualität zurückgegeben, die unerhört differenzierte Gestaltung einzelner Kleinereignisse erinnert dabei nicht zufällig an die je individuellen Artikulationsgesten eines sprechenden Menschen. Rico Gubler bleibt ein komponierender Leser.


Wohin geht Viktor?

Viktor geht auf Reisen. Wie so viele Werke sind auch die «Suiten für Viktor »aus einem konkreten Anlass entstanden, auf den die hier vorliegende Erscheinungsform der Stücke kaum einen Hinweis bietet. Aufgefordert vom Internationalen Musikmonat Basel 2001, mit zeitgenössischer Musik in die Öffentlichkeit zu gehen, hat Gubler eine ganz eigene Idee gefunden: als klingendes Plakat ist ein einzelnes Stück aus den Suiten jeweils
während zwei Wochen und an drei Standorten in der Stadt Basel zu hören, an Tramhaltestellen, am Gehsteig, in einer Unterführung vielleicht. Aus diesem zeitlichen Rhythmus und aus der Tatsache, dass die klingende Beigabe zu den Musikmonat-Plakaten von Ende Januar bis im November 2001 andauert, erklärt sich auch die 23teiligkeit der vier Suiten. Man wünscht der unalltäglichen Begegnung mit Viktor offene Ohren und die Lust für das Dazwischen.

Patrick Müller