Presse


ausführlichere Texte:
4 Suiten zu Viktor (Patrick Müller, Text zu CD)
Gegen die Systeme ankomponieren (Thomas Meyer, Tages-Anzeiger)
Streif(f)lichter (Rico Gubler, Positionen Nr. 44)
"...weisses Blatt Papier..." (Patrick Müller, Interview)
das erlösende Moment am Doppelstrich (Dissonanzen Nr. 78)

Dissonanzen Nr. 78, Dezember 2002


das erlösende Moment am Doppelstrich

Der abschließenden Doppelstriche sind viele, selten befinden sie sich wirklich am zeitlichen Ende des Stückes, ab und zu lassen Sie sich wie Holzpflöcke in gesunde Erde rammen. Oft gleichen sie jedoch unsicheren Glaubensbekenntnissen, an die man krampfhaft die ganze Ausarbeitung zu glauben verpflichtet ist, um sie danach gnadenlos als erste Retusche zu opfern.

 

Beim Durchgehen verschiedener Stücke ist mir auch die Vielfalt der (hier wirklich das Werk beendender) Schlussstriche aufgefallen. Gibt es Komponisten wie Emiliano Turazzi, dessen Saxophonstück wie zufällig nach beinahe einer Stunde nach einem normalen Taktstrich sein Ende findet, sind es rein grafische Notationen, denen ein abschließender Doppelstrich ein nicht geringes Mass an Absurdität beimessen würde. Auch eigene Werke, deren Doppelstriche am Ende bewusst fett oder unbewusst eben nicht fett gezogen sind, lassen ziemlich klare Schlüsse auf die Gestaltung der Zeit in und um das Stück herum zu.

 

Oft beobachte ich auch die Arbeitsweise, das Ende eines Werkes zu Beginn des Kompositionsprozesses als klare Gestalt aufzuzeichnen, um es danach, wie als Messskala mit weit ins Innere des Stückes führenden Sensoren, laufend umzuschreiben. Die letzten Takte als Pars pro toto mit der unschätzbaren Fähigkeit, dem Komponisten anzuzeigen, dass bei einer deutlichen Verlangsamung der Veränderungen die Form sich zu festigen beginnt (oder der Schreibende schlichtweg den Überblick verloren hat).

Ausgehend von dieser Beobachtung kann ich mein Befinden während des Prozesses als Spannungsfeld zwischen der Abstoßung und dem Anziehen vom Doppelstrich als Abschluss der Formfindung beschreiben, und muss leider gestehen, dass diese Beobachtung mehr als nur ein Körnchen Wahrheit enthält. Der Doppelstrich, wo er auch immer anzusiedeln ist, würde auch im schönsten Konstrukt (sei es so außermusikalisch wie es will) nur der letzten Runde beim Langstreckenlauf entsprechen, wäre nicht seine Funktion als Sensor der formalen Stringenz der zu erarbeitenden Großform. Diese Instrumentalisierung führt in meiner persönlichen Arbeit wiederum zu einem wohlbekannten Vorgehen, dem unentwegten Abschreiben des schon bestehenden Materials, das somit dem „Doppelstrich“ zur Prüfung vorgelegt wird.

 

Für mich persönlich ist sicher auch das erlösende Moment am Doppelstrich, der kurze Augenblick zwischen der vollsten Zufriedenheit mit dem Transport der Musik auf das Notenpapier und dem Einsetzen der Selbstkritik kurze Zeit danach, auch ausschlaggebend für das Bedürfnis meinen Beruf als (schreibender) Komponist auszuüben.

 

Im Laufe dieses Textes mutiert der abhakende Doppelstrich, bzw. Schlussstrich zielstrebig zur (immer wiederkehrenden) letzten Kontrollinstanz. Meine Angewohnheit die erste Reinschrift, die dann den Interpreten vorgelegt wird, als erste Version zu bezeichnen, verlängert die Abwesenheit des endgültigen Schlussstriches (wie bei den meisten Komponisten) in die Proben, und weit über die Ur-, die Zweitaufführung hinaus. Diese Arbeit, die eine „Versionenliste“ ohne Ende produziert, weist auf ein klares Bedürfnis hin, die Feinjustierung in der Aufführung (in Bezug auf Artikulation, Tempofluss etc.) mittels eines Mechanismus im eigenen Einflussbereich zu behalten.

 

Die Entscheidung, das Anrennen gegen die Schlussstrichinstanz teilweise dem Interpreten zu übergeben (übergeben zu wollen und zu können), weist auf einen wichtigen Aspekt meiner Musik hin: das Interesse an der Grauzone zwischen dem Einfluss des Komponisten und dem Einwirken des Interpreten auf das erklingende Resultat in der Probe- und Konzertsituation. Im folgenden Abschnitt versuche ich eine Vorgehensweise darzustellen, die dem Interpreten diese „Schlussstrich-Taktik“ für seine Arbeit zur Verfügung stellen soll, dem Komponisten aber seine Gestaltungsmöglichkeiten (in jeglicher Hinsicht) nicht entzieht.

 

Ein wichtiger Punkt in der Gestaltung des Musik- und auch des allgemeinen Zeitflusses besteht für mich in der Wahl verschiedener, sich überlagernden Temposchienen, da ich versuche dem fixierten Gestus wieder eine Individualität durch den Interpreten zurückzugeben, was in Rücksicht auf dessen persönliches Artikulationsverständnis, dem Ansprache- und Klangverhalten seines Instrumentes, wie auch in Rücksicht auf die jeweilige Aufführungsatmosphäre (bzw. Konzerträumlichkeit) zu geschehen hat. Um dies zu erreichen strebe ich eine Wechselwirkung zwischen  einer sehr flexiblen Tempogestaltung und einem klaren, bis teilweise pedantischen Ausformulieren der verschiedenen Klang- und Spielanweisungen an. Diese Anweisungen formulieren Klänge (quasi „Einklänge“), sind als Durchgangsstadien, und meist nicht als komplexe Schichtung verschiedener Vorgänge zu verstehen. Der Interpret soll eine (d.h. die) individuelle Interpretation erarbeiten, die in Hinsicht auf die oben genannten Parameter stimmig ist. In Streif(f)lichter einer Morgenstunde besteht die Zeitorganisation aus zwei sich annähernden Tempobereichen (Viertel=54-76 und 88-126), die durch verbale Anweisungen, vor allem aber durch den auszuführenden Notentext genauer definiert sind. 

 

Weiterführend benutze ich dieses System in offen gefaltet (1999), für Violoncello solo. Die drei Temposchienen überlappen sich nun (Viertel=80-132, 60-96 und 40-72), das heißt, der Interpret erhält die Möglichkeit, ein schnelles Tempo langsamer zu spielen als ein langsames Tempo schnell sein kann, was theoretisch Schwachsinn ist, praktisch aber beinahe Grundlage jeglichen Musizierens ist. Dieses Vorgehen scheint mir eine geeignete Möglichkeit zu sein, sprachliche und musikalische Gesten einzufangen, und dem angenehm beruhigenden und alles umspannenden, aber nivellierenden Grundpulsieren zu entkommen.

 

Dieser kurze Exkurs zeigt aber auch den zu Beginn besprochenen Mechanismus auf, dass das Erlangen von „aufrichtiger“ Formulierung eines Gedankens im Vergleich zur menschlichen Sprache einem ganz anderen Gesetz (der Konstruktion) gehorcht. Mein persönliches Interesse liegt auch in der Erforschung des Phänomens, dass die menschliche Sprechartikulation immer etwas „Richtiges“ in sehr verschiedener Ausgestaltung hervorbringen kann. Achtung, ich berufe mich hier auf die „Richtigkeit“ der Artikulation und des Sprachflusses und nicht auf den Inhalt des Ausgesprochenen; interessant ist nicht, ob der Mensch glaubwürdig wirkt, sondern ob seine Sprechattitüde aufrichtig scheint. Die (im Vergleich zur musikalischen Praxis) nicht sehr zahlreichen Beispiele, in denen man bei einem in seiner Muttersprache sprechenden Menschen den Sprachduktus anzweifelt, sind deshalb für mich von sehr großem Interesse.

 

Rico Gubler, Herbst 2002